Untersuchungsgegenstand und Definitionen: Bollywood-Fans, Unterhaltung, Erlebnis und interkulturelle Imagination

Veröffentlicht von Rosi Würtz am

Die alleinige Konzentration auf die konkrete Rezeptionssituation, in der ein Film gesehen wird, würde der Komplexität des Forschungsgegenstandes nicht gerecht werden. Die vorliegende Forschungsarbeit versucht möglichst viele Aspekte einzubeziehen, die bei der Rezeption und Aneignung von Bollywood- Filmen eine Rolle spielen. Als Grundlage dienen mir Expertengespräche mit Personen, die sich gezielt und mit Vergnügen Bollywood-Filme anschauen und sich auf vielfältige Weise anderweitig mit Bollywood auseinandersetzen, beispielsweise durch die Teilnahme an Bollywood Tanzkursen etc.

Der von mir betrachtete Rezipientenkreis beschränkt sich auf ein deutschsprachiges Publikum, das seinerseits wieder kulturell sehr heterogen zusammengesetzt ist. Allen Bollywood-Fans an sich ist eine „unmittelbare emotionale oder sinnliche Beschäftigung mit dem Gegenstand“ (Winter 1992: 124) gemeinsam, gleichgültig ob diese nun im virtuellen Raum oder in der realen Offline-Welt stattfindet.

Filmplakat @ Internationale Buchmesse Frankfurt 2006, Foto: Kathrin Rosi Würtz

Im Lauf der Forschungsarbeit hat sich herausgestellt, dass die genaue Auseinandersetzung mit dem Filmmaterial, das die Zuschauer rezipieren, unerlässlich ist, da unterschiedliche Filmversionen (Originalversion und geschnittene Fernsehversionen) auch unterschiedliche interkulturelle Imaginationen kreieren. Der Film „In guten wie schweren Tagen“ bietet sich besonders zur Untersuchung an, da er der erste Bollywood-Film ist, der in deutscher Synchronisation im deutschsprachigen Fernsehen auf RTL 2 ausgestrahlt wurde (in Deutschland, Österreich und in der Schweiz). Für viele Zuschauer:innen und auch für einige Bollywood-Fans war die deutsche Erstausstrahlung dieses Films im November 2004 der Erstkontakt mit Bollywood überhaupt.

„Also, der Film bleibt für mich immer etwas besonderes, ganz einfach aus dem Grund, weil es mein erster Bollywoodfilm war, und weil ich durch diesen Film die Liebe zu Bollywood entdeckt habe. Abgesehen davon hat der Film alles, was man an einem typischen Bollywoodfilm erkennen muss. Emotionen, Liebe, Tradition, und dazu noch großartige Musik und Tanz!“

Quelle: User auf www.molodezhnaja.ch

Einen Film wie „In schweren wie guten Tagen“ mit Hilfe von quantitativen Zählmethoden auszuwerten, macht aufgrund der Komplexität des Dargestellten wenig Sinn. Günstiger für die Analyse und anschließende Interpretation durch die Rezipient:innen ist in diesem Fall die Einordnung des Filmmaterials in einen Gesamtzusammenhang. Insgesamt analysiere ich drei Filmszenen aus „In guten wie in schweren Tagen“ inklusive einer Tanzszene. Das Auswahlkriterium der einzelnen Filmszenen ist die filmische Darstellung und Inszenierung der bereits erwähnten und für die Überprüfung meiner Thesen relevanten Werteinstanzen. Anhand diverser Darstellungsmethoden, die die jeweils interessanten Aspekte der einzelnen Szenen hervortreten lassen, zeigt sich, wie die Konstruktion eines Films und die unterschiedlich gekürzten Ausstrahlungsversionen die ursprünglich vom Regisseur intendierte Informationen umdeuten.

Nun sollen jedoch erst einmal einige Begriffe, die mein Arbeitstitel beinhaltet, erläutert und definiert werden. Beginnen werde ich mit dem Rezipientenkreis, den ich speziell betrachtet habe.

Bollywood-Fans

Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen Personen, die sich selbst als ‚Bollywood- Fans‘ bezeichnen. Im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft bilden Fankulturen jeweils spezifische Distinktionsmerkmale zu ihrer Positionierung im sozialen Feld aus (vgl. Bourdieu 1987). Distinktionsgewinne mit und durch Medien (vgl. Mikos 2006) und die Anhäufung symbolischen Kapitals im Sinne Bourdieus Lebensstil-Theorie lassen sich auch bezüglich des Konsums von Bollywood-Filmen beobachten (s. Kapitel 5).

Durch den Erwerb ökonomischen, sozialen und (pop-)kulturellen Kapitals unterscheiden sich Bollywood-Fans gezielt von ihrer sozialen Umwelt. Die Exessivität bzw. „Fanintensität“ (vgl. Roose und Schäfer 2006: 12), mit der Bollywood-Fans ihrer Leidenschaft für Bollywood-Filme nachgehen, ist durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt. So berichten einige Mitglieder von Bollywood-Fanforen, dass sie mindestens einen Bollywood-Film pro Tag anschauen. Andere wiederum warten ausschließlich die TV-Ausstrahlungen ab.

Winter (1992) teilt in seiner Soziologie des Gegenwartsfilms anhand des Horrorfilms das am Film interessierte Publikum in vier „Idealtypen der Teilnahme“ ein, die mir als Anknüpfungspunkte bei meiner Analyse dienen sollen. Winter unterteilt folgende Teilnahmeformen, die in Bezug zur Sozialwelt der Filmrezipient: innen gesetzt werden: a) „Fremder“, b) „Tourist“, c) „Buff“, d) „Freak“.

Entschlüsseln wir nun versuchsweise diese vier Idealtypen anhand der Online-Forenbesucher:innen, die sich online mit den Filmen auseinandersetzen und diese diskutieren: Die fremde Fan-Forenbesucher:in ist noch nicht sehr vertraut mit Bollywood-Filmen, sie sucht größtenteils nach allgemeinen Informationen bezüglich der Filme. Der Tourist ist ein Gelegenheitsbesucher, der sich immer mal wieder in die Foren einloggt, um konkrete Fragen zu stellen.

Buffs und Freaks sind laut Winter als die „wahren Fans“ (Winter 1992: 125) zu bezeichnen. Die Begriffe sind hier ohne jegliche negative Konnotation zu verstehen. Im Vergleich zu den ersten beiden Idealtypen, besitzen diese Bollywood- Fans ein weitreichendes Wissen über Bollywood-Filme und teilweise darüber hinaus über Indien. Diese Bollywood-Fans zeigen ein hohes Interesse an vielen verschiedenen Bollywood-Filmen, so dass die Intertextualität der Filme zu einem wichtigen Diskussionsthema deklariert wird. Beispielsweise werden direkte Filmzitate, die bereits in anderen Filmen vorgekommen sind, erkannt und im Online-Forum zur Diskussion angeboten. Auch über musikalische Filmzitate (beispielsweise das Einspielen von Songmotiven aus anderen Bollywood-Filmen) findet eine rege Diskussion in den entsprechenden Themen der Online-Foren (beispielhaft hierzu http://511.forum.onetwomax.de/topic=101280066605, zuletzt gesichtet am 25.08.2006) statt.

Winter unterscheidet nochmals zwischen dem Idealtyp des Buffs und dem Idealtyp des Freaks bezüglich der größeren Verbundenheit des Freaks zu seiner Sozialwelt. Die Organisation von Fantreffen, die Herausgabe von Fanzines (Fan-Magazinen, Beispiele sind „Indien-Magazin“, „ISHQ“-Magazin) und die Positionierung als Bollywood-Spezialist:in erfordern vom Freak eine höhere Kontaktfreudigkeit mit seinem sozialen Umfeld. Es sei nochmals daraufhin gewiesen, dass es sich bei diesen Teilnahmeformen um Idealtypen handelt, die real in Mischformen und Abwandlungen auftreten. Für den weiten Kontext, in dem Bollywood-Filme rezipiert werden, ist vor allem das Unterhaltungs- und Erlebnisangebot dieser Filme von entscheidender Bedeutung für die Verweildauer.

Unterhaltung und Erlebnis

Die Bereitschaft sich einer fremdartigen Filmkunst hinzugeben und überhaupt erst Interesse für sie zu entwickeln, ist eng an das Unterhaltungs- und Erlebnisangebot dieser Filme gebunden. Nach Luhmann muss ein Film, der eine fiktive Geschichte erzählt und unterhalten möchte, auch nicht-fiktive Elemente enthalten, die der Zuschauer seiner Alltagswelt zuschreibt. Auf den Realitätsbezug verweist auch Blothner und betont den gleichzeitigen „Fluchtweg aus der Wirklichkeit“ (vgl. Blothner 2005).

Eskapismus soll hier als psychische und physische Handlung verstanden werden, die die Intention hat, dem Alltagsleben und seinen ungelösten Konflikten zu entfliehen. Diese Handlung setzt wiederum die Bereitschaft voraus, sich zeitweise in eine als angenehmer und schöner empfundene Welt hineinversetzen zu wollen. Das Filmschauen muss jedoch nicht zwangsweise mit einem Eskapismuswunsch verbunden sein. Weitere Filmnutzungsmotive sind u.a. der Wunsch etwas Neues und Andersartiges sehen und erfahren zu wollen, Wissen anzuhäufen oder der einfache Genuss des Visuellen, die Schaulust an sich.

Neben der Offenheit diverser Filmnutzungsmotive müssen unterhaltende Medien der Zuschauer:in außerdem erlauben, „sehr schnell ein zur Erzählung passendes, auf sie zugeschnittenes Gedächtnis zu bilden“ (Luhmann 2004: 99). Rekrutiert wird bei diesem Vorgang auf bei der Rezipient:in vorhandenes Wissen. Unterhaltung, so Luhmann, hat „einen Verstärkungseffekt in bezug auf schon vorhandenes Wissen“ (Luhmann 2004: 108). Daher ist die später noch zu führende Diskussion über Indien-Bilder und Vorstellungen von Indien, die im deutschsprachigen Raum kursieren und interkulturelles Wissen bereits beinhalten, wichtig für das Verstehen der möglichen Rezeptionen von Bollywood- Filmen.

Grundlegend betrachtet ist das Filmmedium frei zugänglich und erfordert keine langwierigen Kompetenzaneignungen wie beispielsweise das Lesen eines Buches. Hinzukommt, dass Unterhaltung in raumzeitlichen Klammern stattfindet und Anfang und Ende dem Zuschauer mehr oder weniger bewusst sind. Diese Komponenten lassen besonders Spielfilme zum Erlebnis werden. Die scheinbar paradoxe Paarung von Wirklichkeitseindruck und Illusionsbereitschaft in der Beobachter- bzw. Voyeursposition eröffnet geradezu den Unterhaltungshorizont von Spielfilmen. Schon während des Rezeptionsaktes selbst lösen Filme einen Prozess der Partizipation aus, der sich sowohl auf die Wahrnehmung als auch auf die dabei empfundenen Gefühle bezieht (Metz 1974: 21f.). Diese Partizipation ist in ihren realweltlichen Konsequenzen die Grundlage für Theorien, die von einer aktiven Zuschauer:in ausgehen. Hierzu gehören Forschungsansätze, die Unterhaltung beispielsweise aus einer anthropologischen Perspektive betrachten.

Die Spielmetapher und der Vergleich mit dem Spiel in Theorien dieser Forschungsrichtung verdeutlichen den Zweck, den Unterhaltung erfüllen soll: Rezipient:innen wie beispielsweise Fernsehzuschauer:innen wenden sich bestimmten Fernsehangeboten bewusst zu, um positive Erlebnisse zu generieren. Folgt man dem Uses-and-Gratifications-Approach (vgl. Burkart 2002 u.a.) so werden Unterhaltungsangebote auf sehr individuelle Art und Weise ausgesucht und rezipiert. In einer Erlebnisgesellschaft wird das Individuum vor eine Vielzahl von Erlebnisangeboten gestellt, die jedoch erst vom Subjekt selbst zum Erlebnis gemacht werden. Schulze beschreibt in seiner „Erlebnissoziologie“ den kreativen Part, den die Aneignung aus dem (Film-)Erlebnis heraus entwickeln kann:

„Was von außen kommt, wird erst durch Verarbeitung zum Erlebnis. Die Vorstellung der Aufnahme von Eindrücken muß ersetzt werden durch die Vorstellung von Assimilation, Metamorphose, gestaltender Aneignung.“

Quelle: Schulze 2000: 44

Für Schulze ist zudem die Reflexion des Erlebten von entscheidender Bedeutung. Reflexion in all ihren Facetten verstehe ich als Prozess, in dem durch „Erinnern, Erzählen, Interpretieren, Bewerten“ Ursprungserlebnisse wie beispielsweise ein Bollywood-Film im Fernsehen „festere Formen“ gewinnt (Schulze 2000: 45). Zu diesen Formen zähle ich auch interkulturelle Imaginationen, die durch Reflexion eines Filmerlebnisses angeeignet werden.

Interkulturelle Imagination

Bollywood-Filme dienen als Massenmedium bei der Kreation interkultureller Imaginationen. Die globale Verbreitung von Filmen bietet uns einerseits Einblicke in die Populärkultur fremder Kulturen und andererseits prägen sie auch unsere Vorstellungen von diesen. Der interkulturelle Aspekt dieser Arbeit gründet auf der Annahme, dass Bollywood-Filme nicht nur Imaginationen kreieren, sondern als Kunstprodukte auch nach den vermeintlichen Erwartungserwartungen seines global doch sehr heterogenen Publikums konstruiert werden.

Imaginationen verstehe ich demnach als das auf kulturellem Wissen basierende Vorstellungsvermögen, sich ein Bild einer fremden Kultur anzueignen. Innerhalb dieser Imaginationsfähigkeit erhalten Texte wie beispielsweise Bollywood- Filme „ihren Sinn immer im gesellschaftlichen Kontext und tragen so zur Zirkulation von Bedeutungen bei“ (Winter 1995: 2). Der hier verwendeten Begriff der ‚interkulturellen Imagination‘ soll einen dynamischen Bilderrahmen schaffen, der in den bereits erwähnten Facetten seinen Bedeutungshorizont erhält und das hier diskutierte Feld nicht einschränken, sondern übersichtlich gestalten soll. Dieser Bilderrahmen dient als eine Art durchsichtiger Spiegel, der eine Sicht auf zwei Dinge im selben Moment ermöglicht: gewissermaßen die synchrone Betrachtung des reflektierten Eigenen und des Fremden auf der gegenüberliegenden Seite des Spiegels.

Grundsätzlich unterstelle ich allen Rezipientenkreisen und Publika von Bollywood- Filmen – gleichgültig welchem Kulturkreis zugehörig – die Rolle einer „active audience“ (vgl. Srinivas 2002), die nach kultur- und kontextabhängigen Bedürfnissen Sinngestaltung betreibt. Wie ich später noch explizit zeigen werde, entstehen interkulturelle Imaginationen auf verschiedenen Ebenen: während des Filmerlebnisses selbst, aber auch während diverser Handlungen nach dem Filmerlebnis. Diese Handlungen reichen von der Kommunikation mit anderen Menschen über das Erlebte, über verändertes Konsumverhalten bis hin zur intensiven Auseinandersetzung mit fremden Kulturen und dem Verwenden neuer Handlungsmuster.

Verzeichnis der hier verwendeten Literatur

  • BLOTHNER, DIRK (2005): Der Film ein Drehbuch des Lebens? Zum Verhältnis von Psychologie und Spielfilm. In: Filmforschung und Filmlehre (Themenheft zu IMAGE 2) 2005, http://www.bildwissenschaft.org/VIB/journal/, 31.10.2005.
  • BOURDIEU, PIERRE (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main.
  • BURKART, ROLAND (2002): Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. Wien.
  • METZ, CHRISTIAN (1972): Semiologie des Films. München.
  • MIKOS, LOTHAR (2006): „Distinktionsgewinne mit und über Medien“. Vortrag an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, 19.01.2006, vorliegend als Podcast über iTunes.
  • LUHMANN, NIKLAS (2004): Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden.
  • ROOSE, JOCHEN/ MIKE STEFFEN SCHÄFER (2006): Fans als partizipierendes Publikum? Paper zur Internationalen Tagung „Serious Games. Football Media and Politics“ der Sektionen Politische Soziologie und Soziologie des Körpers und des Sports der DGS. Hamburg.
  • SCHULZE, GERHARD (2000): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main.
  • SRINIVAS, LAKSHMI (2002): The active audience: spectatorship, social relations and the experience of cinema in India. In: Media, Culture and Socienty, 2002, 24, 155-173.
  • WINTER, RAINER (1992): Filmsoziologie. Eine Einführung in das Verhältnis von Film, Kultur und Gesellschaft. München.
  • WINTER, RAINER (1995): Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß. München.

Rosi Würtz

Soziologin mit den Schwerpunkten Digitalisierung und Gesundheit, derzeit Promotion (Uni Bonn) über betriebliche Gesundheitskommunikation von Krankenhäusern in sozialen Medien, staatlich anerkannte Physiotherapeutin mit einem Faible für Paläontologie und Raumfahrt

2 Kommentare

Bollywood zwischen Erlebniswelt und interkultureller Imagination - Kathrin Rosi Würtz · Juni 30, 2024 um 4:17 pm

[…] Untersuchungsgegenstand und Definitionen: Bollywood-Fans, Unterhaltung, Erlebnis und interkulturelle Imagination […]

Blogparade #WorkLifeWriteBalance - Kathrin Rosi Würtz · Juli 7, 2024 um 10:37 am

[…] hat dieses Mal geholfen und der Schreibfluss gewinnt wieder an Dynamik. Soziologischer Lesetipp: Untersuchungsgegenstand und Definitionen: Bollywood-Fans, Unterhaltung, Erlebnis und interkulturelle… (Der oben genannten Luhmann-Text wird darin auch […]

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