Interview mit Physiotherapeutin Kirsten Götz-Neumann

Veröffentlicht von Rosi Würtz am

Schon als Zwölfjährige machte Kirsten Götz-Neumann „Gehübungen“ mit ihren Großmüttern im elterlichen Wohnzimmer in Düsseldorf. Damals vielleicht noch nicht von großen Erfolgen gekrönt, so kann man heute sagen: Die Gang-­ und Bewegungsanalyse ist ihr Leben, ihre Berufung.

Sie ist Buchautorin des bereits in mehrere Sprachen übersetzten Standardwerks „Gehen verstehen – Ganganalyse in der Physiotherapie“ (Thieme-Verlag), welches nun schon in der vierten Auflage erschienen ist. Kirsten Götz-Neumann folgt nationalen und internationalen Lehraufträgen, u.a. an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, Hildesheim und an der Niigata University of Welfare & Health, Japan. Physiotherapeuten, Ärzte, Dozenten und Professoren besuchen ihre Weiterbildungen im In- und Ausland u.a. auch an der University of Southern California in Los Angeles.

Eine Hand voll Fragen an Kirsten Götz-Neumann

Frage 1: Was fasziniert Sie am menschlichen Gang?

Kirsten Götz-Neumann: Die menschliche Bewegung kann man am besten mit einem Sinfonieorchester vergleichen. Das klingt auch nur schön, wenn alle richtig spielen und vor allem die Instrumente an der richtigen Stelle einsetzen! Und der menschliche Gang ist mindestens genauso faszinierend. Das hochkomplexe System des Gehens funktioniert nur, wenn alle Muskeln und Gelenke zum richtigen Zeitpunkt agieren. So reicht es bei weitem nicht, den kranken Fuß zu betrachten oder eine ”Liegenduntersuchung” vorzunehmen. Nur in der Bewegung, in der Dynamik können die Defizite und damit die Ursachen für eine Beschwerdesymptomatik erkannt werden. Und wenn man das verstanden hat und umsetzen kann, kann man wirklich helfen, und das ist dann das, was wirklich faszinierend ist.

Frage 2: Sie haben das Konzept „Gehen verstehen“® entwickelt. Wie kam es dazu?

Kirsten Götz-Neumann: Wann ist ein Gangbild normal, wann ist es pathologisch? Wirklich fundierte Aussagen bekam ich weder in meiner Ausbildung noch während meiner beruflichen Tätigkeit. Ich wollte von Grund auf verstehen, warum und wie ich eine therapeutische Maßnahme einzuleiten habe.

Ich war frustriert von der Unwirksamkeit vieler Therapien und machte mich auf die Suche nach einer ursächlichen statt einer rein symptomatischen Behandlung. Wir Physiotherapeuten kennen viele Methoden und versuchen oft, das Problem der Patienten an diese anzupassen. Es sollte umgekehrt sein!

Auf der Suche nach wissenschaftlich fundierten Grundlagen kam ich 1994 nach Los Angeles und lernte am Rancho Los Amigos National Rehabilitation Center die renommierte Ganganalyse-Expertin Frau Prof. Jacquelin Perry kennen, welche eine echte Freundin für mich wurde. Ich lernte alles über die Theorie der Biokinematik und -kinetik des Ganges. Doch die klinische Umsetzung in die Gangtherapie fehlte nach wie vor. Ich wußte, dass die Patienten mit Gangproblemen hiervon profitieren können und müssen!

Einige amerikanische Kollegen, unter anderem von der University of Southern California/LA, gründeten so zusammen mit mir 1998 in Los Angeles die O.G.I.G. (Observational Gait Instructor Group). Diese Gruppe möchte das Wissen um Gang und Bewegung immer auf dem neuesten Stand halten und verbreiten. Für die Praxis entwickelte ich ein O.G.I.G.-Ganganalyse-Formular. Das Formular gibt jedem Therapeuten ein Standard-Werkzeug an die Hand, mit dem er die Effizienz seiner Therapie prüfen kann. In wenigen Minuten erkennt man damit die wichtigsten Abweichungen und kann einen effektiven Behandlungsplan aufstellen.

Und schließlich veröffentlichte ich dann 2002 mein Buch ”Gehen Verstehen”® beim Thieme-Verlag, in welchem man praxisnah alle wichtigen Grundlagen nachlesen kann.

Frage 3: Sie sind Physiotherapeutin und sagen, dass es der „schönste Beruf der Welt“ sei. Wie kommen Sie zu dieser Aussage?

Kirsten Götz-Neumann: Als Physiotherapeut kann ich meinen Patienten zuhören, ihnen Mut machen und, wenn ich es richtig anpacke, wirklich helfen. Wenn ich nach einer fundierten Ganganalyse die Ursache eines Leidens mit einem genau auf den Erkrankten abgestimmten Therapiekonzept therapiere, kann ich das tatsächlich. Das fordert viel Engagement, ist abwechslungsreich und wirklich befriedigend. Und wenn man dann nach erfolgreicher Therapie die Tränen einer Mutter sieht, deren Kind wieder läuft oder daran teilhaben kann, dass ein Patient wieder Dinge realisieren kann, welche zuvor für ihn unerreichbar waren, ist das der schönste Lohn.

Meine Vision ist, dass Physiotherapeuten auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse wieder lernen, Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu fassen und daraus kreativ effektive Behandlungen für ihre Patienten zu entwickeln.

Frage 4: Wenn Sie an Ihre Physiotherapie-Ausbildung zurückdenken: Was würden Sie heute an den Lerninhalten ändern?

Kirsten Götz-Neumann: Bezüglich der Gangdiagnostik und -therapie gibt es in der zurzeit praktizierten Ausbildung der Physiotherapie in Deutschland erhebliche Defizite. Das Thema Gang wird größtenteils vernachlässigt. Moderne Erkenntnisse, welche für die optimale und effiziente Behandlung eines gehbehinderten Patienten obligat sind, werden kaum vermittelt.

Überall wird evidenzbasiertes Arbeiten eingefordert und auch die Krankenkassen verlangen „Ganganalysen“, wissen aber nicht, dass diese im Regelfall nicht einmal gelehrt werden. Im Programm „Gehen Verstehen®“ ist die wissenschaftlich fundierte Ausbildung in Theorie und Praxis der Ganganalyse und -therapie für die handelnden Akteure aller Professionen Grundvoraussetzung.

Zudem müssen Physiotherapeuten von Anfang an lernen, den Patienten immer mit in den Therapieprozess einzubeziehen. Das ist leider nicht die Regel, aber ebenso Grundvoraussetzung für den Therapieerfolg.

Frage 5: Und die eine typische Quadratlatschen-Frage zum Schluss: Was empfehlen Sie den Lesern und Leserinnen für ihre Fußgesundheit?

Kirsten Götz-Neumann: Das kann man so pauschal gar nicht beantworten. Schmerzt der Fuss, ist die Ursache oft ganz woanders zu suchen. Deswegen lautet meine Antwort auf diese Frage immer: durch Telefon und Hose, keine Diagnose!

Vielen herzlichen Dank für das Interview und viele Grüße nach Los Angeles!

[Kathrin Rosi Würtz, 1/2016]


Weitere Infos @ www.gehen-verstehen.net

Kategorien: Bewegung + Gesundheit

Rosi Würtz

Soziologin mit den Schwerpunkten Digitalisierung und Gesundheit, derzeit Promotion (Uni Bonn) über betriebliche Gesundheitskommunikation von Krankenhäusern in sozialen Medien, staatlich anerkannte Physiotherapeutin mit einem Faible für Paläontologie und Raumfahrt

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