Physiotherapie interkulturell: Der Mensch steht im Mittelpunkt

Veröffentlicht von Rosi Würtz am

Die soziale Interaktion mit unseren Patienten ist für uns Physiotherapeuten unser„täglich Brot“. Es reicht schon längst nicht mehr aus, ausschließlich medizinisch auf höchstem, evidenzbasierten Standard zu agieren, sondern im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Denkansatzes auch weitere Aspekte des menschlichen Zusammenlebens in jede einzelne Therapieeinheit einzubinden.

Während de Physiotherapie-Ausbildung: Schulung sozialer Kompetenzen in interkulturellen Kontexten

Die Umsetzung einer erhöhten individuellen Patientenorientierung beginnt bereits während der Ausbildung der Nachwuchsphysiotherapeuten. Deutschland ist das einzige europäische Land, in dem der Gesundheitsfachberuf des Physiotherapeuten noch als Ausbildungsberuf in einer Berufsfachschule angeboten wird. Alle anderen europäischen Länder bieten die Physiotherapie bereits ausschließlich als wissenschaftliches Studium mit Praxisanteilen an.

Spätestens in den obligatorischen praktischen Einsätzen in Krankenhäusern, Rehabilitationskliniken oder auch in Physiotherapiepraxen bemerken angehende Physiotherapeuten, dass der Umgang mit Patienten weitaus mehr abverlangt als das bloße handwerkliche Können und Abrufen medizinischen Wissens. Die individuelle Kommunikation mit dem Patienten zur möglichst genauen Bestimmung des Patientenzieles setzt Empathie und Feingefühl vonseiten des Therapeuten voraus.

Besonders im Umgang mit Menschen anderer Kulturkreise basieren die Kooperationsbereitschaft des Patienten und der Therapieerfolg nicht zuletzt auf den Sozialkompetenzen des behandelnden Physiotherapeuten. Aus diesem Grund bietet eine fachkompetente Ausbildung die Gelegenheit, vor dem Berufseintritt im „geschützten Raum“ mit Mitschülern über diverse Behandlungssituationen in interkulturellen Kontexten nachzudenken und bereits gemachte Erfahrungen auszutauschen.

Lerneinheit: Zielgruppen physiotherapeutischer Interventionen

Die Lerneinheit III.3 des Teilbereichs „Zielgruppen physiotherapeutischer Intervention“ in der „Empfehlenden Ausbildungsrichtlinie für staatlich anerkannte Physiotherapieschulen in Nordrhein-Westfalen“ sieht explizit die kritische Auseinandersetzung mit dem bereits erörterten Themengebiet vor. Die Gewichtung des Themas bleibt den Ausbildungsstätten jedoch selbst überlassen. Folgende Fragestellungen dienen als Leitfaden für die Unterrichtsgestaltung:

  • „Reflexion: Wie reagiere ich auf Menschen aus fremden Kulturen? Was an ihnen fasziniert mich, stößt mich ab, macht mir Angst?
  • Transkulturelle Therapieansätze
  • Die soziokulturelle Situation von Migrant-Innen in Deutschland
  • Religiöse Vorstellungen und Traditionen, Riten und Gebräuche aus fremden Kulturen
  • Gesund sein / krank sein, jung sein / alt sein in fremden Kulturen“¹

Der Physiotherapieunterricht hat in diesem Fachbereich vor allem die Aufgabe, einen wertneutralen Zugang zum Patienten zu vermitteln, ohne seine Herkunft außer Acht zu lassen. Kein leichtes Unterfangen, zumal sich beispielsweise in Bezug auf Indien viele Bilder und Vorstellungen des Subkontinents und seiner Menschen über Jahrhunderte hinweg in den Köpfen festgesetzt haben.

Verständnis füreinander während der physiotherapeutischen Behandlung

Der physiotherapeutische Prozess vom Anamnesegespräch bis zur eigentlichen Behandlung und darüber hinaus birgt Konfliktherde, denen Therapeut und Patient jedoch durch beidseitiges Verständnis füreinander vorbeugen können. In der Gesprächsführung spielt der Physiotherapeut die leitende Rolle, wohlwissend den Patienten und dessen Persönlichkeit inklusive seiner kulturellen Prägung ganzheitlich zu inkludieren. Sowohl negativ besetzte Vorurteile als auch positiver Exotismus sind in dieser Beziehung nicht angebracht. Viel wichtiger ist hierbei, stets eine gesunde Neugierde für den Menschen, der eine Hilfestellung für seinen Heilungsprozess von uns Bewegungsexperten sucht, zu bewahren.

Während der Ausbildung zum staatlich anerkannten Physiotherapeuten ist die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen und deren Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, von Jungsein und Altern auch jenseits der Heimat, Umgang mit dem eigenen Körper, Körperdistanzen in sozialen Interaktionen etc. von wichtiger Bedeutung.

In Form von eigenständig recherchierten Informationen zu diesen Sachverhalten und deren Präsentation lernen Schüler, sich dieser Thematik zu nähern. Das ausgewogene Maß an allgemeinen Fakten und subjektiv gefärbten Imaginationen sind auch in Bezug auf Indien eine Gradwanderung. Viel zu vielfältig sind die kulturellen Kontexte, aus denen ein indischstämmiger Patient stammen könnte. Wie das unten genannte Zitat illustrieren soll, lohnt es sich für die patientenorientierte Therapieplanung mit Fingerspitzengefühl und den richtigen Fragen mehr über den individuellen Menschen, der vor uns Physiotherapeuten auf der Therapiebank sitzt, zu erfahren.

„Als mein Physiotherapeut mir sagte, dass wir ja mal ein paar Übungen aus dem Yoga in die Therapie einbringen könnten, weil ich das ja von Zuhause kennen würde, musste ich schlucken. Bisher habe ich in meinem Leben noch nie Yoga gemacht.“ (Shanthi M., 65 Jahre alt, aus Bangalore, lebt seit 40 Jahren in Deutschland)

Moderner Physiotherapieunterricht kann hier eine wesentliche Basis legen, die den zukünftigen Physiotherapeuten ein wichtiges Handwerkzeug für den geschickten Umgang mit dem fremden Patienten bietet.


¹ Quelle: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (2005): „Empfehlende  Ausbildungsrichtlinie für staatlich anerkannte Physiotherapieschulen in Nordrhein-Westfalen“, S. 93

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs MEINE WELT erschienen (Heft 3, Jahrgang 30, Winter 2013).

Kategorien: Bewegung + Gesundheit

Rosi Würtz

Soziologin mit den Schwerpunkten Digitalisierung und Gesundheit, derzeit Promotion (Uni Bonn) über betriebliche Gesundheitskommunikation von Krankenhäusern in sozialen Medien, staatlich anerkannte Physiotherapeutin mit einem Faible für Paläontologie und Raumfahrt

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