Emotionaler Stress während der Physiotherapie-Ausbildung

Veröffentlicht von Rosi Würtz am

Vor sechs Jahren habe ich mein Staatsexamen erfolgreich absolviert und darf mich seitdem „staatlich anerkannte Physiotherapeutin“ nennen. Mittlerweile arbeite ich nicht mehr aktiv als Physiotherapeutin. Aber hier geht es nicht um meinen „Ausstieg“ aus der physiotherapeutischen Arbeitspraxis. Hier dreht sich alles um emotionalen Stress, den ich während meiner dreijährigen Lehrzeit erlebt habe.

Auslöser für diesen Blogbeitrag

Von Hause aus bin ich Soziologin, d.h. ich habe meine Physiotherapie-Ausbildung erst nach meinem Uniabschluss und einer wissenschaftlichen Tätigkeit gemacht. Im Zuge eines Lektüretages für meine Doktorarbeit (siehe rosiwuertz.de/tag/doktorarbeit/) erinnerte mich ein Grundlagentext („Grounded Theory: Strategien qualitativer Forschung“ (2010) von Glaser und Strauss) an meine Zeit als Physiotherapie-Praktikantin in diversen Krankenhäusern. Nicht zuletzt erwähnen die Textautoren Patientenbeispiele aus ihren Studien, die sie in Krankenhäusern durchführten. Vielleicht erinnerte mich auch das herbstliche Wetter an Praktikumstage, an denen ich trotz des bunten Sonnenscheins draußen eine innere Verzweiflung aufgrund herzzerreißender Begegnungen mit nach Hause nahm. Trotz des zeitlichen und räumlichen Abstands triggerte der besagte Text Erinnerungen, die jetzt erneut das Tageslicht erblicken.

Schwere Patient*innenschicksale und psychische Belastung

Gehört es zur professionellen Einstellung, Patient*innenschicksale dort zu lassen, wo sie einem begegnet sind? Also in Rehakliniken, Krankenhäusern, in Physiotherpie-Praxen? Aus der reflexiven Distanz der Jahre ist die Fragestellung bereits falsch gewählt. Vielmehr geht es darum, bereits während der Ausbildung zur Physiotherapeut*in Strategien aktiv zu erlernen, die das Aushandeln dieser Begegnungen ermöglichen.

Mit Aushandeln meine ich Fähigkeiten, die einem helfen, mit Patient*innenschicksalen so umzugehen, dass sie die behandelnden Physiotherapeut*innen nicht im Lauf der Zeit aufzehren. Denn ein durch und durch empathisch ausgelegter Beruf wie dieser weist an einigen Ecken Stellen auf, die bei Nichtbeachtung zu enormen psychischen Belastungen führen können.

Gespräche mit Kolleg*innen

Ich werde die Situationen wohl nie vergessen, in denen ich examinierten Physiotherapeut*innen von meinen Begegnungen mit schwerstbetroffenen Patient*innen erzählte und wenig hilfreiche Antworten – wie dieses sinngemäße Zitat zeigt – erhielt:

„Wenn du das nicht wegstecken kannst, dann bist du für diesen Beruf nicht geeignet!“ oder „Sie dürfen nicht so sehr auf die Patient*innen eingehen. Das schadet Ihnen auf Dauer.“

Anonym

Da stand ich also nun: Ein Kopf voll von guten und traurigen Patient*innenschicksalen und keiner nahm meinen emotionalen Stress so wirklich ernst. Ich erinnere mich lediglich an eine Dozentin, die die Tränen in meinen Augen sah, mich in den Arm nahm und mir Mut machte. Sie wünschte sich mehr Betreuungszeit während der Praktika, um als helfende Hand den Berufsneulingen zur Seite stehen zu können. Wirklich ändern konnte sie die Situation leider nicht.

Mein Umgang mit emotionalem Stress in der Physiotherapie

Ganz ehrlich muss ich sagen, dass meine Haut nicht wirklich dicker geworden ist. Manche Schicksale sind mir nach wie vor im Kopf und von einigen Patient*innen weiß ich auch, dass sie bereits verstorben sind. Die gemeinsamen Therapiemomente – wie zum Beispiel das erste Mal Aufstehen aus dem Rollstuhl oder der letzte Gang über den Klinikflur – sind manchmal immer noch präsent.

Mir hilft die Dankbarkeit für gute und lehrreiche Augenblicke, auch wenn es für einige Menschen sehr traurig weiterging. Und mir helfen Gespräche mit Menschen, die mir wirklich zuhören und mich nicht als unfähig bezeichnen.

Empathiefähigkeit gehört zur Physiotherapie und ein Abhärten gegenüber Patient*innenschicksalen sollte in keinem Fall Ausbildungsziel sein. Vielmehr gehört ein wohlwollendes Reflexionstraining mit viel Einfühlungsvermögen vonseiten der Dozent*innen dazu, um resiliente Berufsanfänger*innen auszubilden und einen menschlichen Umgang mit emotionalem Stress zu lehren. Ich wünsche mir, dass Empathie als Stärke gesehen wird, die individuell im professionellem Rahmen diskutiert, reflektiert und trainiert wird.

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Kategorien: Bewegung + Gesundheit

Rosi Würtz

Soziologin mit den Schwerpunkten Digitalisierung und Gesundheit, derzeit Promotion (Uni Bonn) über betriebliche Gesundheitskommunikation von Krankenhäusern in sozialen Medien, staatlich anerkannte Physiotherapeutin mit einem Faible für Paläontologie und Raumfahrt

2 Kommentare

Verlagsmonat Edition 12/2020 | Würtz Media - Verlag Kathrin Rosi Würtz · Mai 10, 2022 um 8:25 am

[…] Beitrag im Weblog BackStagePHYSIO.de […]

Verlagsmonat Edition 9/2020 | Würtz Media - Verlag Kathrin Rosi Würtz · Oktober 24, 2023 um 12:45 pm

[…] 2020 erblickten ein paar neue Texte das Licht der Welt und einer davon behandelt das Thema „Emotionaler Stress während der Physiotherapie-Ausbildung“ (Weblog auf BackStagePHYSIO.de). Zum Glück holt das Aufräumen auch den Mut wieder zutage, […]

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