Einleitung und Forschungsanliegen: Bollywood zwischen Erlebniswelt und interkultureller Imagination
Im Juli 2024 habe ich entschlossen, meine Magisterarbeit hier auf meiner Website Schritt für Schritt zu veröffentlichen. Mein Ziel ist es, meiner Erkenntnisse in leicht gekürzter Form einem weiteren Publikum zur Verfügung zu stellen. Hier folgt nun die Einleitung in das Thema und die Heranführung an mein Forschungsanliegen.
Der vorliegende Text setzt sich mit der immer wieder aufkommenden Aufmerksamkeit auseinander, die dem kommerziellen indischen Populärkino aus Bombay (heute Mumbai genannt) von einem deutschsprachigen Publikum entgegengebracht wird. Die folgenden Zitate verdeutlichen schlaglichtartig die Spannweite der in dieser Arbeit zu diskutierenden thematischen Felder: Georg Wilhelm Friedrich Hegel schreibt über Indien, es sei
„immer das Land der Sehnsucht gewesen, und erscheint uns noch als ein Wunderreich, als eine verzauberte Welt. […] Indien [ist] das Land der Phantasie und Empfindung.“
Quelle: Kade-Luthra 1991: 103
Auf www.hollywoodreporter.com ist im Januar 2006 zu lesen:
„What better way to escape the cold German winter than to turn on the TV and flee to an exotic land of silk saris, romantic love and happy ends? That seems to be the attitude of a growing audience of Teutonic viewers who are tuning out their daily worries and tuning in to Bollywood.“
Quelle: http://www.hollywoodreporter.com/thr/international/article_display.jsp?vnu_content_
id=1001883470, zuletzt gesichtet am 25.08.2006
Anlässlich der Internationale Buchmesse 2006 mit dem Gastland Indien in
Frankfurt am Main kommentiert die Moderatorin des ARD Morgenmagazins
während der Sendung:
„Mit diesem Indien-Boom rennt man hier offene Türen ein!“
Quelle: Moderatorin Patrizia Schäfer im ARD-Morgenmagazin, Ausgabe vom 29.09.2006
Und Arjun Appadurai bemerkt in seiner Ausführung zu globalen ethnischen
Räumen:
„Phantasie ist heute eine soziale Praxis geworden; sie ist in ungezählten Varianten Motor für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens vieler Menschen in vielerlei Gesellschaften.“
Quelle: Appadurai 1998: 22
Problemstellung und Zielsetzung
Dieses soziologische Projekt befasst sich zentral mit der Frage, unter welchen sozialen Bedingungen Bollywood-Filme eine Rezeptionssphäre zwischen einer realen Erlebniswelt und einem virtuellen interkulturellen Imaginationsraum kreieren. Die Rezeption von Bollywood-Filmen durch ein deutschsprachiges Publikum und ein mit Bollywood assoziierter vermeintlich ‚indischer‘ Lebensstil lassen sich aus meiner Perspektive heraus zwischen Exotismus und interkultureller Kompetenzaneignung deuten.
Meinen Ausgangspunkt bildet die Produktivkraft, die vor allem durch mediale Imaginationen hervorgerufen wird und Transformationen des Alltags mit sich bringt (vgl. Appadurai 1998). Um diesen Bereich näher beleuchten zu können, analysiere und interpretiere ich die Rezeption von Bollywood-Filmen durch deutschsprachige Bollywood-Fans.
Im Speziellen konzentriere ich mich auf die Rezeption von „In guten wie in schweren Tagen“ (Originaltitel „Kabhi Khushi Kabhie Gham“), der als erster Bollywood-Film in deutscher Synchronisation auf RTL 2 im deutschsprachigen Fernsehen gezeigt wurde. Zum deutschsprachigen Sendegebiet gehören Deutschland, Österreich und die Schweiz. Konzentrieren werde ich mich in meiner Ausführung auf die Bollywood-Rezeption in Deutschland.
Da vor allem Bollywood-Onlineforen der Informationsweitergabe und Diskussion über Bollywood-Filme dienen, fließen immer wieder zusätzlich meine Beobachtungen dieser Diskussionsplattformen ein. Sowohl den Film als auch das Internet verstehe ich als Massenmedien, die auf ihre eigene Art und Weise Sinn produzieren und eine „weiterlaufende Kommunikation“ (Luhmann 1996: 176) stimulieren können.
Meine Arbeit möchte den Schritt aus dem unmittelbaren Rezeptionsraum des Fernsehsessels wagen. Indische Mainstream-Filme wie der zu analysierende Film „In guten wie in schweren Tagen“ versprechen nicht nur ein sicheres genussvolles, individuelles Erleben von bewegten Bildern, sondern bewegen auch ihre Zuschauer:innen.
Bollywood-Filme kreieren im deutschsprachigen Rezeptionsraum das Fundament für neue soziale Handlungsweisen auch auf interkultureller Ebene, so eine meiner Thesen. In diesem Sinn müssen die von meiner Forscherposition aus beobachteten Merkmale dieser medialen Produkte und ihre möglichen Konsequenzen „ihre Gültigkeit erst an der Rezeption und Aneignung dieser Produkte in alltäglichen Kontexten erweisen“ (Winter 1995: 26).
Wie derartige Bilder, die andere kulturelle Verhältnisse und Werte darstellen wollen, rezipiert werden, welche neuartigen Imaginationen innerhalb eines anderen Kulturraumes dadurch in den Köpfen der Zuschauer:innen entstehen und wie letztendlich auf der Basis dieser Imaginationen über eine ‚fremde‘ Kultur im Alltag kommuniziert wird, ist Hauptziel dieser wissenschaftlichen Betrachtung. Dabei konzentriere ich mich auf das Spannungsverhältnis zwischen einer Erlebniswelt und interkultureller Imaginationen. Mein Forschungsinteresse begleiten folgende Hauptthesen, die es kritisch zu hinterfragen gilt:
- Bollywood als wieder aufblühende Form von Exotismus oder gar als Synthese von Orientalismen und Okzidentalismen im Zeitalter der Globalisierung.
- Veränderungen und ein von den Rezipienten empfundener ‚Verfall‘ des eigene Werte- und Normensystems führen zur verstärkten Umorientierung und Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur, die als geschlossenes System in Form eines Popkulturangebotes erscheint.
Vorgehensweise
Diese Forschungsarbeit ist multimedial angelegt und versucht den oben genannten Gegenstandsbereich aus einer möglichst weitgefächerten Multiperspektivität zu beleuchten. Die anfängliche Recherche beinhaltete neben dem klassischen Mittel der Literaturrecherche auch eine Suche nach bereits verfassten Magister- und Doktorarbeiten. Es stellte sich heraus, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem weiten Feld ‚Bollywood‘ immer mehr an Gewicht in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen erhält und darüber hinaus mittlerweile eine interdisziplinäre Erörterung dieses Filmphänomens unabdingbar ist bzw. erst eine sinnvolle Betrachtung der jeweiligen Imaginationen ermöglicht.
Mit in das Feld der Recherche stellte ich das Gespräch mit Personen, die sich bereits auf diverse Arten mit Bollywood intensiver beschäftigt hatten. Um einen direkten Zugang zu von Bollywood faszinierten Personen zu bekommen, habe ich eine Website entworfen und online unter www.bollywood.uni-bonn. de öffentlich zur Verfügung gestellt. Diese Internetseite sollte Interessierte dazu anregen, sich bei mir als Interviewpartner:innen zu melden. Die Interviewform wurde den Interviewpartner:innen freigestellt. So konnten sie zwischen folgenden Interviewformen wählen, auf deren Vor- und Nachteile ich kurz in Kapitel 6.3 „Methodenkritik“ eingehen werde:
- Face-To-Face-Interviews (5 Stück), die anhand eines Leitfaden geführt wurden. Von den Antworten abhängige Umstrukturierungen und die Aufnahme zusätzlicher Fragen waren jedoch in allen Interviews zu verzeichnen.
- E-Mail-Interviews (12 Stück) mit vorgegebenen, offenen Fragen, die zeitversetzt per E-Mail an mich zurückgesendet wurden.
- Chat-Interviews (5 Stück) mit Hilfe eines Messenger-Programms, das einen direkten schriftlichen Austausch mit dem Interviewpartner ermöglichte.
Zusätzlich ließ ich im Februar 2006 einen Informationsflyer im Bonner Kulturzentrum Brotfabrik Bonn auslegen, der um weitere Interviewpartner:innen warb. Die Interviews stellten eine erste Ideensammlung über mögliche Beweggründe dar, warum sich Rezipient:innen von Bollywood-Filmen auch weiterhin gerne diese Filme anschauen und sich als Bollywood-Fans bezeichnen.
Die Beobachtung des Bollywood-Rezipientenkreises ergab, dass Bollywood- Filme vor allem im Internet diskutiert und Bedeutungen besonders im virtuellen Raum ausgehandelt werden. Aufgrund dieser Tatsache fasste ich den Entschluss, meine Beobachtungen auch auf diesen Bereich zu legen.
Wie auch schon in den E-Mail- und Chat-Interviews festgestellt, ergaben sich einige Vorteile bezüglich der Datenqualität. Zum einen wird den Bollywood- Fans durch die Online-Kommunikation meist Anonymität in einem gewissen Maß zugesichert. In Online-Diskussionen werden Konsensbildungen weitestgehend verhindert. Zusätzlich werden Meinungen vehementer vertreten als in Face-To-Face-Situationen. Non-verbale Kommunikationseffekte fehlen gänzlich. Die Konzentration von Inhalten in der schriftlichen Form ist in diesem Fall von Vorteil, weil sie die Meinungen der Diskussionsteilnehmer:innen ohne Interviewer:innen-Beeinflussung wiedergibt. Zum anderen kann sich jedes interessierte und registrierte Mitglied jederzeit, rein theoretisch von überall in die Diskussion einbringen. Nachteil dieser Form der Datengewinnung ist die fehlende Information über die Situation und Umgebung, in denen sich die Diskussionsteilnehmer:innen jeweils befinden, während sie ihre Kommentare abgeben.
Die nachfolgende Untersuchung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit der Diskussionen über das Forschungsfeld des indischen Populärkinos. Es soll vielmehr ein blitzartiger Einblick in die vielfältigen Rezeptionsmöglichkeiten gegeben und anhand eines Beispiels eine von vielen Forschungsperspektiven eingenommen werden. Die vorliegende Analyse bezieht nur einen kleinen Rezipientenkreis und nur ein Filmgenre ein. Von Verallgemeinerungen und Rückschlüssen auf das gesamte deutschsprachige Bollywood-Publikum distanziere ich mich hiermit ausdrücklich. Ich strebe keine Aussage über das generelle Rezipieren von Bollywood-Filmen an, da dies meiner Meinung nach immer einer speziellen Betrachtung bedarf. Mein Forschungsanliegen liegt in der konkreten reflexiven Betrachtung der von mir bis dato gemachten Erfahrungen, die ich mit deutschsprachigen Bollywood-Fans machen durfte.
Aktueller Forschungsstand (2007)
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rezeption von Bollywood- Filmen wurde bislang vor allem im indischen Rezeptionskontext betrieben. Schwerpunkte waren bisher die Rezeptionsinteressen von indischen Publika und von im Ausland lebenden Inder:innen. Im Zuge der akuter werdenden Globalisierungsdiskurse wird auch die globale Verbreitung von Bollywood-Filmen interessanter (vgl. Gniffke 2002, Schöb 2002). Die zunehmenden medialen Transfer- und Umdeutungsprozesse, die neben Hollywood-Filmen auch vornehmlich Bollywood-Filme in lokalen Bedeutungshorizonten erfahren, regen mittlerweile die wissenschaftlichen Diskussionen zwischen einer weltweiten ‚Einheitskultur‘ und hybriden Kulturformen an. Ein Vergleich zwischen Bollywood und Hollywood rückt immer mehr ins Zentrum der Debatten, da Produktionen beider Produktionsstätten mittlerweile eine weltweite Verbreitung gefunden haben. Athique (2005) beispielsweise misst dem populären indischen Film eine globale Signifikanz zu, die jeweils auf lokale Kontexte (Athique untersucht die Rezeption im Gebiet von Sydney, Australien) herunter gebrochen werden muss. Für ihn ist die Auseinandersetzung mit der Rezeption dieser Filme von wichtiger Bedeutung, da Filme erst dadurch in ihrem vollen Ausmaß verstanden und gedeutet werden können.
Auch anderenorts gewinnt die Beobachtung der möglichen Rezeptionen innerhalb lokaler Kontexte immer mehr an Gewicht. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung innerhalb Indiens wird auch die Auseinandersetzung mit dem indischen Populärkino immer interessanter und nicht mehr trivial empfunden. Die Beschäftigung mit Bollywood innerhalb des deutschsprachigen Raumes setzte mit der steigenden Beliebtheit von Drehorten in der Schweiz ein. Der direkte Kontakt von indischen Filmteams und der lokalen Bevölkerung sorgte für erste interkulturelle Kontakte (hierzu ausführlich die Arbeiten von Schneider (2002)).
Blicke auf die eigene Kultur über das Filmmedium, das wiederum für die szenische Darstellung in einem anderen kulturellen Kontext benutzt wird, eröffnen multiperspektivische Forschungsansätze. Von allgemeinen einführenden Schriften über Bollywood-Filme und ihre ästhetische Aufbereitung, verlagert sich die Diskussion nun immer mehr auf erklärende Ansätze, die sich konkret mit den Ursachen einer steigenden Popularität von Bollywood-Filmen im deutschsprachigen Raum und speziell in Deutschland auseinandersetzen (vgl. Lobinger 2003, Pestal 2006). Diese Forschungsarbeit beschäftigt sich im Anschluss und als Erweiterung der bereits entstandenen Arbeiten mit den sozialen Umsetzungsmöglichkeiten, die Bollywood-Filme quasi ‚im Schlepptau‘ mit sich ziehen. Die vielen Kommunikationswege, auf denen über Bollywood- Filme im alltäglichen Kontext diskutiert wird, sollen hier wenigstens ansatzweise angedeutet werden.
Hier verwendete Literatur
- APPADURAI, ARJUN (1998): Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie. In: Beck, Ulrich (Hrsg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 11-49.
- ATHIQUE, ADIAN MABBOTT (2005): Non-resident cinema: transnational audiences for Indian films. Universität Wollongong. http://wwwlibrary.uow.edu.au/adtNWU/public/adtNWU20060511.140513/index.html, zuletzt gesichtet am 09.02.2007.
- GNIFFKE, MATTHIAS (2002): Der indische Film auf dem Weg zur Internationalisierung. Diplomarbeit. Fachhochschule Stuttgart-Hochschule der Medien.
- KADE-LUTHRA, VEENA (1991) (HG.):Sehnsucht nach Indien. Ein Lesebuch von Goethe bis Grass. München.
- LOBINGER, JANINA (2003): Bollywood goes Germany. Deutschland entdeckt den populären indischen Film. Magisterarbeit. Universität Köln.
- PESTAL, BIRGIT (2006): Faszination Bollywood. Zum Trend 2005 im deutschsprachigen Raum. Zahlen, Fakten, Hintergründe. Diplomarbeit. Universität Wien.
- SCHÖB, MARTIN (2002): Diskurse kultureller Globalisierung. Ein interdisziplinärer Vergleich angloamerikanischer, deutscher und indischer Positionen. Magisterarbeit. Universität Freiburg i. Br.
- SCHNEIDER, ALEXANDRA (2002) (HG.): Bollywood: das indische Kino und die Schweiz. Zürich.
- WINTER, RAINER (1995): Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß. München.
1 Kommentar
Bollywood zwischen Erlebniswelt und interkultureller Imagination - Kathrin Rosi Würtz · Juni 30, 2024 um 3:55 pm
[…] Einleitung und Forschungsanliegen (Kapitel 1) […]
Die Kommentarfunktion ist deaktiviert.