Du kannst bestimmt auch Yoga, oder?

Veröffentlicht von Rosi Würtz am

Die Grundlage für diesen Blogbeitrag bildet eine Hausarbeit über Indien, die ich während meiner Physiotherapie-Ausbildung im Jahr 2013 angefertigt habe. Auch mein der Beitrag „Physiotherapie und interkulturelle Ausbildungsinhalte“ in der Zeitschrift MEINE WELT (2013) basiert auf dieser Unterrichtsaufgabe. „Du kannst bestimmt auch Yoga, oder?“ wurde ich persönlich als Patient*in während meiner Kreuzband-Reha gefragt. Also: Yoga oder nicht Yoga, das ist hier auch eine Frage!

Physiotherapie im Lebensalltag indisch-stämmiger Mitbürger*innen

Der vorliegende Bericht beschäftigt sich in aller Kürze mit dem Umgang mit aus Indien stammenden Menschen in Deutschland. Für das erfolgreiche Gelingen physiotherapeutischer Anwendungen ist vor allem ein Grundverständnis der kulturellen und sozialen Herkunft der Patient*in von entscheidender Bedeutung. Der Kommunikationsprozess zwischen Patient*in und Therapeut*in baut nicht zuletzt eben auf diesem gegenseitigen Sich-Einfühlen bzw. Sich-Eindenken können in den „Fremden“ und das „Fremde“.

Das Wissen um die soziale und kulturelle Vielfalt Indiens zumindest in groben Zügen ist der Grundpfeiler dafür, einer indisch-stämmigen Patient*in eben nicht mit Klischees à la Ayurveda, Bollywood und Yoga in der Therapie zu begegnen, sondern den Therapieprozess gemeinsam mit Interesse und höflicher, respektvoller Distanz im Angesicht der individuellen Lebensgeschichte zu gestalten.

Indiens Religionen, Traditionen und Gebräuche

Welche religiösen Vorstellungen, Traditionen und Gebräuche hat das Land, das Ihnen zugeteilt wurde?

Von religiösen Vorstellungen, Traditionen und Gebräuchen innerhalb Indiens zu berichten, ist ein Vorhaben, das bereits mehrere Bücherregalkilometer füllt. Es macht also wenig Sinn sich das Ziel zu setzen, einen allumfassenden Bericht über diesen Themenbereich liefern zu wollen. Viel mehr möchte ich an dieser Stelle auf die kulturelle und soziale Vielfalt des indischen Subkontinents hinweisen
und ihre Bedeutung für den Umgang mit indisch-stämmigen Patient*innen schlaglichtartig beleuchten.

Der Dialog der Kulturen kann nur fruchtbar geführt werden, wenn auch Physiotherapeut*innen begreifen, dass Indien nicht nur Yoga, scharfes Essen, bunte Kleidung und Bollywood-Filme bereit hält, sondern ein kultureller Megakoloss ist, mit vielen äußerst unterschiedlichen Denk- und Lebensweisen. Anhand der folgenden vergleichenden Übersicht soll diese Kulturvielfalt zumindest in
Ansätzen verdeutlicht werden:

Warum spielt das Wissen um die Vielfalt Indiens für den Therapieprozess überhaupt eine Rolle? Wie bei vielen Begegnungen des Alltags sollte auch der Umgang mit indisch-stämmigen Patient*innen ein freundliches und offenes Erfragen der soziokulturellen Herkunft beinhalten, um Peinlichkeiten zu vermeiden und vor allem Interesse an der Patient*in zu bekunden. Aus eigener Erfahrung sind pseudo-professionelle Kommentare wie „Ach, dann können Sie ja bestimmt auch Übungen aus dem Yoga!“ oder „Die Inder sind ja immer so nett und freundlich!“ dem Vertrauensaufbau eher hinderlich und bezeugen eigentlich nur die Unwissenheit des behandelnden Physiotherapeuten. Aus diesem Grund ist das Fragen nach der persönlichen Lebensgeschichte (selbstverständlich im Rahmen des zeitlich Möglichen und unter Wahrung der eigenen persönlichen Grenzen!!!)) so wichtig!

Ein paar Gedanken…

  • zum bejahenden Kopfschütteln: Die wohl verwirrendste Geste, die eine Inder*in einem fremden Menschen entgegenbringen kann, ist das Kopfschütteln, mit dem sie aber im Grunde genommen „Ja“ sagt und so seine Zustimmung zum Gesagten äußert. Physiotherapeut*innen sollten daher nicht erstaunt sein, wenn die Patient*in „Ja“ meint, aber dennoch mit dem Kopf hin- und herwiegt. Es muss aber nicht so sein: Daher ist die empathische Einfühlung von so entscheidender Wichtigkeit.
  • zur Begrüßung: Auch hier gibt es die unterschiedlichen Varianten. Oft geben sich Inder*innen jedoch nicht die Hand, sondern legen ihre Hände gestreckt und angewinkelt vor der Brust aufeinander und begrüßen sich mit einem kurzen Grußwort wie beispielsweise „Namaste“ im Hindi.
  • zum Kastensystem: Das Kastensystem ist zwar per Gesetz abgeschafft, dennoch spielt es in manchen Regionen und diversen Alltagssituationen leider immer noch ein nicht zu unterschätzende soziale Rolle. Ähnlich der mittelalterlichen Ständegesellschaften Europas nimmt das Kastensystem eine Kategorisierung der Menschen vor. In eine Kaste, so der Glaube, wird man hineingeboren und bleibt dieser ein Leben lang angehörig. Durch „gute“ Taten erhofft sich der Gläubige in seinem nächsten Leben als „bessere“ Reinkarnation geboren zu werden. Sozial problematisch ist dieser Glaube in Bezug auf die Wirksamkeit des Tuns auf das Hier und Jetzt. Einige Menschen sehen ihre Lage als gegeben und unveränderlich an, was wiederum die Lebenseinstellung drastisch beeinflussen kann.
  • zu Yoga und Ayuveda: Eine Tatsache direkt vorneweg: Nicht jede Inder*in kann Yoga oder kennt sich in den Lebensweisen des Ayuveda aus. Es ist eher müßig davon auszugehen, dass die indisch-stämmige Patient*in etwas mit „Übungen aus dem Yoga“ anzufangen weiß.
  • zu Bollywood-Filmen: Bollywood-Filme werden meist in Hindi gedreht und nicht jede Inder*in schaut aufgrund dessen Bollywood-Filme an. Es existieren neben der Filmindustrie in Bombay (Bollywood= Wortmischung aus Hollywood und Bombay) auch noch andere Filmregionen mit einem anderssprachigen (Tollywood → Kino von Westbengalen) Publikum.

Und noch ein paar Gedanken…

  • zur Stellung der Frau: Die aktuelle Berichterstattung über Vergewaltigungen von Frauen zeigt ein Bild Indiens, das nicht der bisherigen Vorstellung des europäischen Publikums entspricht. Trotz der unzumutbaren und äußerst brutalen Übergriffe, darf man nicht vorurteilshaft gleich jede indisch-stämmige Frau als ein Männeropfer ansehen. Es kommt wie immer auf den familiären und sozialen Kontext an.
  • zur heiligen Kuh: In einigen indischen Bundesstaaten ist das Schlachten von Kühen verboten. Wie in anderen Kulturen auch verkörpert die Kuh den Wohlstand der Besitzer*in. Die Kuh gilt als göttliche Verkörperung der Erde und dient mancherorts Shiva als Begleittier.
  • zum Hinduismus: Die Hindus stellen die größte religiöse Gemeinschaft innerhalb Indiens, weshalb ich mich nun auf diese konzentrieren werde. Die Ausprägungen des Hinduismus sind ebenso vielfältig wie dieser Subkontinent selbst. Daher macht es keinen Sinn, von „dem“ Hinduismus zu sprechen. Manche Gruppierungen verehren einen Hauptgott wie Shiva, Krishna, Vishnu etc., andere wiederum mehrere. Für uns Physiotherapeut*innen ist es lediglich wichtig zu wissen, dass wir unsere Patient*innen simpel und ganz einfach kurzerhand nach ihrer religiösen Ausrichtung fragen und nicht von Eigenschaften ausgehen, die wir selbst in unser Gegenüber hineininterpretieren.
  • zur indischen Küche: Die indische Küche muss nicht immer so scharf sein wie allgemein angenommen wird. Fakt ist jedoch, dass die Schärfe vor allem der „Desinfektion“ der Nahrungsmittel dient, vor allem in Regionen, in denen eher heißes Klima herrscht. Mittlerweile sind zumindest in den Großstädten Kühlschränke weit verbreitet. In den einzelnen Landstrichen wird teils sehr unterschiedlich gekocht und nicht ausschließlich vegetarisch. Nicht jede Inder*in ist ein „Veg“! Es gibt sogar gläubige Hindus, die ohne Weiteres Rindfleisch (siehe oben heilige Kuh) essen.
  • zum Familienleben: Ich habe in Indien vor allem einen großen Familienzusammenhalt erlebt. Dies äußert sich zum Beispiel bei der Einlieferung eines Familienmitgliedes in ein Krankenhaus. Meist wird die Verwandte 24 Stunden von mindestens einem Familienmitglied „versorgt“. Es kann also gut möglich sein, dass das Zimmer voll ist und man „im Familienkreis therapiert“.

Es gibt sicherlich noch weitere Lebensbereich, die ich hier jedoch nicht alle auflisten kann.

Kulturelle Vorstellungen von Krankheit, Gesundheit und Lebensalter

Was bedeutet für die dort lebenden Menschen gesund / krank und jung / alt zu sein? Körper sind immer kulturell geformt. Dies betrifft auch die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, von den einzelnen Lebensphasen von Anfang an bis zum Ende und auch die Bedeutung von Schmerzen. „Ein Fakir kennt keinen Schmerz!“ trifft aber bei weitem nicht auf jede Inder*in zu. Die o.g. Vorstellungen spielen jedoch während der Therapie eine wichtige Rolle für indisch-stämmige Mitbürger*innen, vor allem wenn es um die Frage geht, wie sie ihren Lebensabend in Deutschland begehen wollen. Ich möchte an dieser Stelle, wie bereits häufiger in dieser Arbeit, eine pauschalisierende Antwort vermeiden und appelliere auf das Einfühlungsvermögen der behandelnden Therapeut*in, die nach dem individuellen Befindlichkeiten und Lebensvorstellungen der Patient*in unabhängig von ihrer Herkunft fragen sollte.

Indiens medizinische und therapeutische Versorgung

Wie ist die medizinische und therapeutische Versorgung in diesem Land? Die medizinische und therapeutische Versorgung ist stark davon abhängig, ob die Patient*in auf dem Land oder in einer der Großstädte lebt. Innerhalb der Großstädte ist die Versorgung auch sehr unterschiedlich. Ein Krankenversicherungspflicht wie in Deutschland existiert nicht. Daher sind viele Menschen auf die Spenden anderer angewiesen, um zumindest eine medizinische Grundversorgung zu erhalten. Ebenso existieren jedoch auch dem europäischen Standard entsprechende Versorgungseinrichtungen.

Indiens Migrant*innen in Deutschland

Wie ist die soziokulturelle Situation von MigrantInnen dieses Landes in Deutschland und vor welchen Schwierigkeiten stehen sie? Die nun zu beantwortende Frage stellt den Kern dieser schriftlichen Auseinandersetzung dar. Es ist wichtig nochmals deutlich herauszustellen, dass sich bei meiner Betrachtung um eine subjektiv eingefärbte Betrachtung von indisch-stämmigen Mitbürger*innen in Deutschland handelt. In anderen europäischen Ländern bietet sich ein teils sehr unterschiedlich geprägtes Bild von Inder*innen in der Öffentlichkeit.

„“To feel at home“ is an expression of the highest degree of familiarity and intimacy. Life at home follows an organzied pattern of routine; it has its well-determined goals and wellproved means to bring them about, consisting of a set of traditions, habits, institutions, timetables for activities of all kinds, etc. Most of the problems of daily life can be mastered by following this pattern.“

Schütz, Alfred (1964): Collected Papers II. Studies in Social Theory., Seite 1008.

Die Frage nach der Heimat ist für unsere indisch-stämmigen Mitmenschen ein wichtiges Thema und die Beantwortung der Frage „Was bedeutet Heimat?“ steht spätestens im letzten Lebensabschnitt an. Das Leben in der Fremde wurde häufig zu einem Leben in einer neuen Heimat. Dennoch sind die einst exotischen Neuankömmlinge nun in einem Alter, in dem man sich über den Verbleib bis zum Lebensende Gedanken macht.

Es gab mehrere Einwanderungswellen nach Deutschland, eine der markantesten war sicherlich das Anwerben von indischen Krankenschwestern und Pflegern in den 1960ern und 1970ern. Assimilation und Integration sind in den meisten Fällen relativ gut geglückt: Sprachbarrieren wurden überwunden, Berufe erlernt und ergriffen, Familien gegründet und eine neue Lebenswelt in einem vorerst fremden Land etabliert.

Die 2. Generation ist erwachsen

Doch nun sind die Kinder der indischen Migrant*innen aus dem Haus und gehen ihre eigenen Wege. Für die „alten“, teilweise auch in binationalen Ehen lebenden Menschen stehen in dieser Zeit Entscheidungen an, die sich auf Verpflegung im Alter und das Sterben beziehen. Solche Fragestellungen müssen unbedingt im physiotherapeutischen Prozess beachtet und berücksichtig werden.

Bezüglich der Inder*innen, die in den letzten Jahren als hochqualifizierte Fachkräfte im Wirtschaftsbereich nach Deutschland gekommen sind, stellen sich jedoch ganz andere Fragestellungen innerhalb des Therapieprozesses. Häufig sprechen diese Englisch und nur wenige Brocken Deutsch, weil eine Rückkehr nach Indien nach Auslaufen der Arbeitsverträge wahrscheinlich ist. Hier wäre es wünschenswert, wenn die behandelnde Physiotherapeut*in zumindest einen Grundwortschatz der englischen Sprache sicher beherrscht, um das Anliegen der jeweiligen Patient*in erfassen zu können. Sicherlich wäre ein entsprechendes Fortbildungsprogramm bzw. ein Sprachkurs speziell für physiotherapeutisch relevantes Englisch ein sinnvolle Investition.

Fazit

Alles in allem habe ich versucht darzustellen, dass eine individuelle Betrachtung der Patient*in unabdingbar ist, da das Herkunftsland Indien bereits so facettenreich ist und Pauschalaussagen nicht Patient*innen adäquat wären. Nur wenn wir eine gemeinsame Kommunikationsform finden, die auf gegenseitiger Einfühlsamkeit beruht, wird die Therapie hoffentlich erfolgreich werden.

Kategorien: Bewegung + Gesundheit

Rosi Würtz

Soziologin mit den Schwerpunkten Digitalisierung und Gesundheit, derzeit Promotion (Uni Bonn) über betriebliche Gesundheitskommunikation von Krankenhäusern in sozialen Medien, staatlich anerkannte Physiotherapeutin mit einem Faible für Paläontologie und Raumfahrt

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