ROCKY reloaded: Einleitung

Veröffentlicht von Rosi Würtz am

2008 startete ich mein Promotionsstudium an der Universität Bonn. Im Kern dreht sich meine Forschung um die Themen Medien und Sport. Bis zur Disputation (Verteidigung dieser Doktorarbeit) ist es aus diversen Gründen nicht gekommen, aber meine Ergebnisse möchte ich nicht in der Schublade verstauben lassen. Vielleicht rege ich jemanden zu weiteren Forschungen über die Spielfilme von Sylvester Stalone aka Rocky Balboa an. To be continued… ROCKY reloaded!

Körperliche Aneignungsprozesse in Medienkulturen

ROCKY reloaded: Filmfantasien und die Inkorporation von Körperimaginationen im Boxsport. Eine soziologische Explorationsstudie über Wechselwirkungen von Sport und Spielfilm.

Die hier vorzustellende Arbeit stellt einen Versuch dar, die simpel klingende Frage „Was ist der Körper?“ in einem medienkulturellen Diskurs zu entschlüsseln. Bewegungen und bewegte Bilder gehen hier zu untersuchende Symbiosen ein. Sie zu beschreiben und zu deuten setzt mit der Erkenntnis ein, dass „Formbildung durch Körperbewegungen“ zustande kommt und dass „Bewegung als nonverbale Kommunikation von Formentscheidungen“ (Bernd Schulze 2006) zu begreifen ist.

Untersuchungsgegenstand: Rocky-Filme

Die Zusammensicht von Körper und Bewegung erfährt eine Ergänzung durch die Kombination mit der Rezeption bewegter Körperbilder und den vielfältigen Imaginations- und Aneignungsprozessen, die daraufhin einsetzen können. Diese bewegten und bewegenden Körperbilder sind keineswegs beliebig austauschbar, sondern in Bezug zu setzen zu der jeweiligen Sportart und dem dahinter zu erwartenden Wertesystem. Ziel meiner Studie ist die soziologische Exploration von körperlichen Aneignungsprozessen der Rocky-Boxspielfilme in medienkulturell geprägten Kontexten. Hierzu wurde möglichst vielseitiges Datenmaterial (Interviews, Kommentare zu Youtube-Videos, Facebook-Postings, FanArt etc.) nach dem Motto „all is data“ einbezogen. Mit Hilfe des eigens entwickelten fünf-dimensionalen ROSEN-Analysemodells wurden die Wechselwirkungen von Sport und Spielfilm in sozial relevante Teilbereiche gegliedert und so eingehender beschreibbar.

Forschungsfrage

Die zentrale Forschungsfrage lautet: Welche Wechselwirkungen von Sport und Spielfilm und welche Wirklichkeitstransformationen von Gesehenem in Gelebtes lassen sich bezüglich des Sportspielfilms ROCKY beobachten?

Einleitung und Erkenntnisinteresse

„Eine Art Erleuchtung kam mir im Krankenhaus. Ich war krank in New York. Ich fragte mich, wo ich junge Mädchen gesehen hatte, die wie meine Krankenschwestern gingen. Ich hatte genug Zeit, darüber nachzudenken. Ich fand schließlich heraus, daß es im Kino gewesen war. Nach Frankreich zurückgekehrt, bemerkte ich vor allem in Paris die Häufigkeit dieser Gangart; die Mädchen waren Französinnen und gingen auch in dieser Weise. In der Tat begann die amerikanische Gangart durch das Kino bei uns verbreitet zu werden.“

(Mauss 1975a, 202)

Was Marcel Mauss gefesselt an das Krankenbett beobachtete, verdeutlicht, dass Kinofilme nicht wirkungslos rezipiert werden. Aneignungsprozesse und Anschlusskommunikationen unterschiedlichster Art und Weise sind die Phänomene, die die soziale und alltägliche Relevanz bewegter Bilder fortschreiben. Die „enge Verschränkung von medialen Wirklichkeiten und unseren Alltagserfahrungen“ (Mai und Winter 2006, 11) ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Forschungsarbeit.

Das Potenzial der „Übertragungsdynamik“ (vgl. Assmann 2009) von Bildern findet in der Inkorporation von Körperimaginationen seinen körperlichen Niederschlag. Im sozialen Handeln werden filmisch geprägte Körpervorstellungen in den Alltag implementiert und kreativ umgesetzt. Das Fleischwerden derartiger Kinobilder beinhaltet nicht eine 1:1-Übersetzung des Gesehenen, sondern wird erst in lokalen Kontexten sozial wirksam und bedeutsam. So sind die Rezeptionen tatsächlich so unterschiedlich und divergent wie jeder einzelne Zuschauer. Gleichzeitig ist jedoch gerade im „Fall Rocky Balboa“ zu fragen, ob wir diese Figur aufgrund ihrer internationalen Präsenz auch als globale Ikone bezeichnen können. Vielfache Aneignungen, Transformationen und Zitationen des Filmklassikers Rocky zeugen von einer Globalisierungstendenz des Filmstoffes seit seiner erstmaligen Veröffentlichung im Jahr 1976. So stellen Mai und Winter fest:

„Sehr schnell wurde das Kino populär und einflussreich. Als wichtige Freizeitaktivität nahm es Einfluss darauf, wie Menschen sprechen, sich kleiden, sich inszenieren und handeln. Das Kino wurde zu einem wichtigen Medium der Enkulturation.“

(Mai und Winter 2006, 8)

Analog hierzu können wir den Boxsport betrachten und feststellen, dass auch hier kreative Übersetzungs- und Einbettungsprozesse in lokale Sozialstrukturen erfolgen, die von spezifischen Ritualdynamiken und Ritualarchitekturen geprägt sind. Körper, Kult und Kultur beschreiben auch in Zeiten neuer Medien ein Trio Infernale, das es in der Zusammenschau in Bezug auf die soziale Wirksamkeit von Sportspielfilmen zu betrachten gilt.

Spielfilme und Sport sind zwei der populärsten Phänomene unserer Zeit. In nahezu allen Kulturen spielen diese beiden sozialen Wirkungsfelder eine wichtige Rolle für die Gestaltung von Alltagsaktivitäten. Beide Sphären des sozialen Lebens sind bereits jede für sich ausführlich in der Wissenschaft behandelt worden und füllen ganze Regalmeter in Bibliotheken. Doch ihre Verschränkung, quasi der vollzogene Sphärenfrevel zwischen der wissenschaftlichen Welt der Filmanalysen und der praktischen Welt des Sports finden erst in einer handvoll Publikationen ihren Niederschlag.

Das Sinnverstehen der Verquickung unterschiedlicher Lebenswelten muss also immer vielseitig und gleichzeitig punktgenau orientiert sein. Diese vorerst paradoxe Ausgangsperspektive trägt eben diesem Umstand Rechnung, dass sich nämlich Filmfantasien und sportliche Körperpraxis einander wechselseitig bedingen. Es gilt also zu fragen, inwiefern wir überhaupt von der „Unbeweglichkeit der Zuschauer“ und der „Beweglichkeit der Bilder“ (vgl. Fritsch 2009) ausgehen können oder ob die Formulierung der Inkorporation von Körperimaginationen basierend auf potenziell bewegenden Bildern in den Betrachtungsfokus genommen werden muss. Im Hier und Jetzt kristallisieren sich soziale Situationen, in denen kulturelles Wissen eine Form erhält. Das Verstehen dieses kulturellen Wissens setzt am subjektiven Blickwinkel der hier schreibenden Forscherin an.

Wechselwirkungszusammenhänge von Sport und Film

Meine soziologische Explorationsstudie beschäftigt sich mit Wechselwirkungszusammenhängen von Sport und Film am konkreten Beispiel des Boxsports und des Boxfilmklassikers ROCKY. Ich beziehe Filmsequenzen aus allen sechs ROCKY-Filmen in meine Analyse ein. Zur Auswahl der Filmsequenzen nehme ich an späterer Stelle weitere Überlegungen vor.

Fokus auf die Rocky-Sportspielfilme

Im Fokus der Betrachtung steht der Einfluss dieses Bildervorrats in Bezug auf die soziale Praxis. Der eingangs bereits zitierte Marcel Mauss bildet auch zum Ende der ersten, nur einführenden Gedanken die Basis meiner interdisziplinär angelegten Forschungshandlungen, die Körpertechniken in ihren „sozio-psycho-biologischen“ (vgl. Mauss 1975b) Kontexten betrachtet:

„Ich sage ausdrücklich die Techniken des Körpers, weil man die Theorie von der Technik des Körpers von einer Untersuchung, einer Darstellung, einer ganz einfachen Beschreibung der Techniken des Körpers ausgehend bilden kann. Ich verstehe darunter die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen. Jedenfalls muß man vom Konkreten zum Abstrakten vorgehen und nicht umgekehrt.“

(Mauss 1975b, 199)

Auf die von Mauss aufgestellte Definition der Techniken des Körpers werde ich an anderer Stelle noch intensiver eingehen. Im Folgenden schließen sich nun die zentralen Fragestellungen und die Darstellung meines Forschungsziels an.

Zentrale Fragestellungen und Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit

Im Sinne der eingangs erwähnten Beobachtung Marcel Mauss stellen sich der Gesellschaftsforscherin auch heute noch sehr ähnlich Fragen: Was sehe ich hier? In welchem sozialen Kontext kommt das zustande, was ich hier sehe? Ein Fragenkarussell, dass sich wie ein Perpetuum mobile durch immer neue medienkulturelle Felder wälzt und nach Antworten sucht.

Um dem ewigen Kreislauf der Forschungsfragen zumindest für analytische Zwecke kurz zu entkommen, ist die engere Betrachtung von konkreten Aneignungs- und Kommunikationsprozessen fruchtbar, um den Phänomenen der wechselseitigen Beeinflussung von Medien- und Körperpraktiken näher zu kommen. Aneignung verstehe ich als einen sozio-psycho-biologischen Prozess, der in raumzeitlichen Klammern stattfindet.

In diesem Sinn bemerkt auch Schulze, dass Aneignung nicht nur bloßes Rezipieren von Medieninhalten ist, sondern ein kreativer und komplexer Prozess, der mit dem Erleben einer spezifischen Situation eng verknüpft ist:

„Was von außen kommt, wird erst durch Verarbeitung zum Erlebnis. Die Vorstellung der Aufnahme von Eindrücken muß ersetzt werden durch die Vorstellung von Assimilation, Metamorphose, gestaltender Aneignung.“

(Schulze 2000, 44)

In der Inkorporation sehe ich jedoch weitaus mehr soziales Potenzial als das bloße Verinnerlichen von kulturellen Inhalten. Die durch Filme hervorgerufenen Imaginationen werden vielmehr in der sozialen Praxis erprobt und biographisch eingebettet (vgl. Flam 2002, 140). In diesem Zusammenhang spielt die Kommunikation über das Rezipierte und Imaginierte eine entscheidende Rolle. Innere Kommunikation kann auch als eine Art sozial bedeutsamer Reflexion verstanden werden. Durch das Nachaußenkehren erhalten die Imaginationen ihre soziale, auf den Mitmenschen bezogene Relevanz. „Sozial relevantes Handeln“ als Begriffskonstrukt verstehe ich hier als ein an den Kommunikationsäußerungen des Anderen orientiertes Handeln in Bezug auf die von Max Weber getroffene Definition von „sozialem Handeln“ (Weber 2008, 3). Hierzu bemerkt Schulze:

„Reflexion ist der Versuch des Subjekts, seiner selbst habhaft zu werden. Durch Erinnern, Erzählen, Interpretieren, Bewerten gewinnen Ursprungserlebnisse festere Formen.“

(Schulze 2000, 45)

Diese Ursprungserlebnisse sind jeweils zuerst auf individueller Ebene relevant bis sie durch Kommunikation auch sozial relevant werden. Um genau diese Schnittstellen herauszukristallisieren, verwende ich folgende Forschungsfragen als reflexive Leitlinien während meiner Forschungsarbeit:

  • Dienen Sportspielfilme als Handlungsleitlinien für alltagsweltliche Kommunikationen? Falls der Film als Handlungsleitlinie dient, die jedoch kreativ in neuer Gestalt verändert wird, gilt es nach tatsächlich beobachtbaren Inkorporationen von Körperimaginationen in diversen Formen zu suchen.
  • Die Fragen „Wie sieht mein Körper aus?“ und „Wie wird mein Körper gesehen?“ sind zentral für die Bildung des eigenen Images und werden in Bezug gesetzt zur Frage „Wie sieht der Körper des Filmhelden aus?“. Findet eine alltagsrelevante Identifikation mit Filmfiguren statt?

Im Sinn einer in der sozialen Praxis verankerten Theorieentwicklung interessieren mich die subjektiven Wahrnehmungen, Werte und Entscheidungsprozesse von Akteuren in Medienkulturen:

  • Inwiefern bilden Filmfantasien und Körperimaginationen Ausgangspunkte für eine intensive Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper?
  • Welche filmisch geprägten Körperimaginationen werden in eine expressive Körperpraxis und Körperdarstellung übertragen?
  • Welche Rolle spielt der Filmheld Rocky Balboa während der wunschgemäßen aktiven Formung und Formulierung (im kommunikativen, repräsentativen Diskurs) des individuellen Körpers?

Nochmals komprimiert ausgedrückt beschäftigt sich diese Forschungsarbeit mit folgenden fundamentalen Fragestellungen:

  • Welche Wechselwirkungen von Sport und Spielfilm lassen sich bezüglich des Sportspielfilms ROCKY beobachten?
  • Welche Wirklichkeitstransformationen von Gesehenem in Gelebtes lassen sich am Beispiel des Sportspielfilms ROCKY beobachten?

Transformationsprozesse von Gesehenem und Gelebtem

Zentrales Element dieses Transformationsprozesses ist die Kommunikation über das Gesehene, die hier in besonderem Maß betrachtet werden wird. Auf unterschiedlichsten Wegen findet das Gesehene Eingang in die soziale Praxis und wird somit nicht nur für den ROCKY-Filmrezipienten, sondern auch für den Antwortgeber (beispielsweise bei der Kommunikation über ein online zur Verfügung gestelltes Trainingsvideo, das eine Filmszene adaptiert via Kommentarfunktion unterhalb des Videos) relevant und sinnhaft.

Alltägliche Praxis und wissenschaftliche Praxis gehen hier in ständiger kritischer Distanz zueinander enge Wechselbeziehungen ein, die Gesamtzusammenhänge erst sichtbar werden lassen. Im Mittelpunkt dieser Explorationsstudie steht daher das Verstehen einer multimedial geprägten Körperpraxis, deren Formen es in einem angemessenen, die Audiovisualität des Untersuchungsgegenstandes berücksichtigenden Diskurs zu beschreiben gilt.

Die Generierung von Thesen stellt das Ziel dieser Explorationsstudie dar. Anschlussforschungen sind durchaus denkbar und werden zum Abschluss in einem „Cineastischen Forschungsausblick“ erwähnt.

Hier geht es zu Teil 2 meiner Doktorarbeit „ROCKY reloaded“!

Inhaltsverzeichnis meiner Doktorarbeit

Erwähnte Literatur:

  • Assmann, Aleida. 2009. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 4., durchgesehene Aufl. München: Beck.
  • Flam, Helena. 2002. Soziologie der Emotionen. Ein Einführung. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
  • Fritsch, Daniel. 2009. Georg Simmel im Kino. Die Soziologie des frühen Films und das Abenteuer der Moderne. 1., Aufl. Bielefeld: transcript.
  • Mai, Manfred, und Rainer Winter. 2006. „Kino, Gesellschaft und soziale Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Soziologie und Film“. In Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge, 7–23. Köln: Von Halem.
  • Mauss, Marcel. 1975a. Soziologie und Anthropologie II. Hg von. Ritter, Henning Lepenies, Wolf. München: Hanser.
  • Mauss, Marcel. 1975b. „Die Techniken des Körpers“. In Soziologie und Anthropologie II, hg von. Ritter, Henning Lepenies, Wolf, 197–220. München: Hanser.
  • Schulze, Gerhard. 2000. Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 8. Aufl., Studienausg. Frankfurt/Main [u.a.]: Campus-Verl.
  • Weber, Max. 2008. Wirtschaft und Gesellschaft : Grundriss der verstehenden Soziologie ; zwei Teile in einem Band. Frankfurt am Main; Affoltern a.A.: Zweitausendeins ; Buch 2000.
Kategorien: Wissenschaft

Rosi Würtz

Soziologin mit den Schwerpunkten Digitalisierung und Gesundheit, derzeit Promotion (Uni Bonn) über betriebliche Gesundheitskommunikation von Krankenhäusern in sozialen Medien, staatlich anerkannte Physiotherapeutin mit einem Faible für Paläontologie und Raumfahrt

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